Sonntag, 13. November 2005

Johannes vom Kreuz

DER WEG NACH HAUSE

Ich trat ein und wußt´ nicht wo, 
und blieb auch ohne Wissen, 
alles Wissen übersteigend. 

Wo ich eintrat, wußt´ ich nicht, 
Doch als ich mich dort gewahrte, 
ohne Kenntnis meiner Bleibe, 
hörte ich von großen Dingen. 
Was ich hörte, sag´ ich nicht. 
Blieb ich doch ganz ohne Wissen, 
alles Wissen übersteigend. 

Frieden war´s mit Gott und der Welt, 
wovon ich zutiefst erfuhr 
ganz allein in meinem Herzen. 
Klar ward mir der rechte Weg. 
Alles war so voll Geheimnis, 
daß ich nur noch stammeln konnte, 
alles Wissen übersteigend. 

Trunken war ich, wie von Sinnen, 
hingerissen, außer mir. 
Blieb dabei doch mein Empfinden 
jeglicher Empfindung bar. 
Und der Geist sah sich beschenket 
mit Verstehn, das nicht verstand, 
alles Wissen übersteigend. 

Jeder, der dorthin gelangt, 
wird ganz irre an sich selbst. 
Alles, was er vorher wußte, 
scheint ihm jetzt verschwindend klein. 
Und sein Wissen wächst so sehr, 
daß er ohne Wissen bleibt, 
alles Wissen übersteigend. 

Doch je höher man dort steigt, 
desto weniger versteht man, 
daß die dunkle Wolke kommt, 
um die Nacht uns zu erhellen. 
Wer sie kennt, die dunkle Wolke, 
der bleibt immer ohne Wissen, 
alles Wissen übersteigend. 

Dieses Wissen, das nicht weiß, 
ist von großer Mächtigkeit, 
und die Weisen können nie, 
denkend sich´s zu eigen machen. 
All ihr Wissen reicht nicht hin, 
nicht verstehend zu verstehen, 
alles Wissen übersteigend. 

Jenes allerhöchste Wissen 
ist so überhoch erhaben, 
daß kein Können und kein Wissen 
jemals es begreifen kann; 
nur wer selber sich besiegte 
durch ein Wissen, das nicht weiß, 
wird´s für immer übersteigen. 

Doch wer hören will, der höre: 
Dieses allerhöchste Wissen 
ist Empfinden hoch erhaben 
Gottes eig´ner Wesenheit; 
diese wirkt in ihrer Güte 
und läßt nicht verstehend bleiben, 
alles Wissen übersteigend. 

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OBWOHL ES NACHT IST

Wie gut weiß ich den Quell,
der fließt und strömt,
obwohl es Nacht ist.

Ja, jene ew´ge Quelle ist verborgen.
Doch weiß ich gut, wo ihre Bleibe ist,
obwohl es Nacht ist.

Den Ursprung kenn´ ich nicht, denn sie hat keinen.
Doch aller Ursprung stammt aus ihr. Ich weiß es,
obwohl es Nacht ist.

Ich weiß, daß nichts so schön sein kann wie sie,
daß Himmel und Erde aus ihr trinken,
obwohl es Nacht ist.

Ich weiß, es findet sich kein Grund in ihr,
und keines Menschen Fuß kann sie durchwaten,
obwohl es Nacht ist.

Die Klarheit, die sie hat, wird nie verdunkelt,
und alles Licht - ich weiß es - stammt von ihr,
obwohl es Nacht ist.

Ich weiß, daß ihre Ströme, reich an Wasser,
die Hölle, Himmel und die Völker tränken,
obwohl es Nacht ist.

Der Strom, den dieser Quell aus sich entläßt,
ist mächtig, ja allmächtig, wie ich weiß,
obwohl es Nacht ist.

Dem Strom, der aus den beiden hier hervorgeht,
ich weiß´s, geht keiner von den zwei´n voran,
obwohl es Nacht ist.

Ja, diese ew´ge Quelle ist verborgen
in diesem Brot, um Leben uns zu geben,
obwohl es Nacht ist.

Von hier wird alle Kreatur gerufen,
und dieses Wasser sättigt sie - im Dunkeln,
weil es ja Nacht ist.

Den Lebensquell, nach welchem ich mich sehne,
in diesem Brot des Lebens seh´ ich ihn,
jedoch bei Nacht.